Warum wir nicht gegen uns selbst kämpfen sollten
Selbstsabotage kennen wir alle: Man will eigentlich das Richtige tun, tut aber immer wieder das Gegenteil. Die übliche Reaktion darauf lautet oft: „Du weißt doch, dass es falsch ist – hör einfach auf damit!“ Doch so einfach ist es nicht. Es gibt tiefere Gründe, warum wir bewusst schädigende Verhaltensweisen immer wieder wählen. Diese zu verstehen, ist entscheidend für eine nachhaltige Veränderung.
Selbstsabotage – Eine Schutzstrategie unseres Nervensystems
Was wäre, wenn Selbstsabotage gar kein Fehler, sondern eine biologisch sinnvolle Schutzstrategie wäre? Aus systemischer und neurologischer Sicht könnte Selbstsabotage tatsächlich verhindern, dass wir zu tief in einen sogenannten Freeze-Zustand geraten – eine tiefe Immobilisierung, vergleichbar mit schweren depressiven Zuständen.
Unser autonomes Nervensystem kennt grundsätzlich drei Zustände:
• Ventral-vagal: Ein Zustand sicherer Entspannung, in dem wir kreativ und produktiv sein können.
• Sympathisch: Ein aktivierter Stressmodus (Kampf oder Flucht).
• Dorsal-vagal (Freeze): Ein Zustand tiefer Immobilisierung bei Überforderung oder Hilflosigkeit, den wir als Depression erleben können.
Wenn die Schwelle, die uns vor dem Absturz in den Freeze-Zustand schützt, chronisch Richtung Sympathikus verschoben wird, entsteht Dauerstress. Genau hier liegt die Ursache für das, was wir Selbstsabotage nennen. Wir sabotieren uns unbewusst, um in einem bekannten, wenn auch unangenehmen, Zustand zu bleiben – und so die gefürchtete tiefe Immobilisierung zu vermeiden.
Selbstsabotage als gesellschaftliches Phänomen
Viele gesellschaftliche Glaubenssätze („Ohne Schweiß kein Preis“, „Arbeit muss hart sein“) erzeugen chronischen Stress. Sie verschieben systematisch die autonome Schwelle Richtung Sympathikus, sodass Menschen kaum noch echte, tiefe Entspannung erreichen. Das Ergebnis: Dauerstress, Angst vor Stille und Langeweile – und langfristig ineffektives Handeln. Individuell und gesellschaftlich gesehen entsteht so eine chronisch krankhafte Situation.
Hinzu kommt ein weiterer wesentlicher Punkt: Gesellschaftliche Strukturen und Normen verstärken die Wahrnehmungsverzerrungen, indem sie Stress, Leistungsdruck und ständige Aktivität als normal und erstrebenswert erscheinen lassen. Dadurch wird eine wirkliche Heilung nicht nur erschwert, sondern sogar aktiv verhindert oder infrage gestellt. Menschen, die bewusst in einen ventral-vagalen Zustand der Entspannung wechseln wollen, stoßen häufig auf Widerstand oder Unverständnis ihres Umfeldes, was den Prozess zusätzlich erschwert.
Wie gehen wir damit um?
Der entscheidende Schritt ist, Selbstsabotage nicht länger moralisch zu verurteilen, sondern sie als Symptom einer tieferliegenden systemischen Schwellenverschiebung zu verstehen.
Anstatt gegen sich selbst zu kämpfen, sollte man lernen, die Schwelle wieder bewusst zurück in den ventral-vagalen Bereich (echte Entspannung) zu verschieben. Das bedeutet, bewusst Situationen auszuhalten, in denen wir nichts tun, statt reflexartig neue Aktivität zu erzwingen. So lernt das Nervensystem langsam wieder, dass Entspannung und Stille nicht gefährlich sind. 2bC
Fazit
Selbstsabotage ist kein individuelles Fehlverhalten, sondern ein Symptom eines chronisch aktivierten Stressmodus, der gesellschaftlich verstärkt und sogar aktiv aufrechterhalten wird. Wir brauchen keine Moralvorwürfe, sondern Mitgefühl, Verständnis und systemische Neuausrichtung. Die Lösung liegt nicht darin, härter zu kämpfen, sondern bewusster und ruhiger zu werden.
Scientific Abstract (English)
Rethinking Self-Sabotage: A Neuro-Systemic Approach to Chronic Stress and Immobilization Responses
Conventional approaches frame self-sabotage as a moral or behavioral failure. This article offers a novel neuro-systemic interpretation, suggesting self-sabotage may act as an unconscious protective mechanism against dorsal-vagal immobilization (freeze response), often experienced as depression. Chronic societal stressors and beliefs systematically shift the autonomic threshold toward sympathetic activation, reducing accessibility to ventral-vagal (safe, creative, regenerative) states. Societal norms further reinforce distorted perceptions, presenting stress and constant activity as normal, thereby actively hindering recovery and reinforcing chronic dysregulation. This chronic shift promotes a habitual, self-sabotaging state aimed at avoiding deeper immobilization. Effective intervention requires recognizing self-sabotage as symptomatic of systemic nervous system dysregulation reinforced by societal conditions, not individual moral weakness. Therapeutically, recalibrating the autonomic threshold toward safe relaxation rather than immediate activity provides a sustainable path toward resolution.