Einleitung
Motorische Steuerung wird in der neurowissenschaftlichen Lehre überwiegend kortikal verortet. Das Rückenmark gilt als Weiterleitungsstruktur mit Reflexkompetenz. Aktuelle Ergebnisse aus der neurorehabilitativen Forschung legen jedoch nahe, dass das Rückenmark eigenständig komplexe motorische Muster generieren und koordinieren kann.
Dieser Beitrag fasst die derzeitige Evidenzlage zur motorischen Eigenaktivität des Rückenmarks zusammen und diskutiert die Möglichkeit, dass das Rückenmark nicht nur für Lokomotion, sondern für einen weitaus breiteren Bereich motorischer Funktionen eine zentrale Rolle spielt.
1. Spinale Generierung motorischer Muster: Evidenz aus Tiermodellen
Experimente mit querschnittsgelähmten Tiermodellen, insbesondere an Mäusen (Courtine et al.), haben gezeigt, dass nach gezielter Rückenmarkstimulation koordinierte Gangbewegungen auftreten können – ohne supraspinale Kontrolle.
Die verwendeten Protokolle nutzten epidurale Stimulation in Kombination mit partieller Gewichtsentlastung. Die resultierenden Bewegungsmuster waren rhythmisch, bilateral koordiniert und adaptiv gegenüber sensorischem Feedback.
Diese Ergebnisse bestätigen, dass das Rückenmark über zentrale Mustergeneratoren (central pattern generators, CPGs) verfügt, die auch bei ausbleibendem kortikalem Input aktiv bleiben können.
2. Relevanz spinaler Verschaltung für weitere motorische Funktionen
Bisher wurden CPGs primär in Bezug auf Lokomotion untersucht. Es existieren jedoch Hinweise auf analoge Verschaltungsprinzipien in anderen motorischen Funktionsbereichen:
- Atmung, gesteuert durch medulläre Rhythmusgeneratoren, steht unter spinaler Mitkontrolle (z. B. über N. phrenicus aus C3–C5).
- Schlucken und Kauen sind durch zentrale Schaltkreise im Hirnstamm organisiert, zeigen jedoch ebenfalls Afferenzen und Modulation durch spinale Strukturen.
- Zungenbewegungen (N. hypoglossus) und Kehlkopfmotorik (N. vagus, N. accessorius) sind formal Hirnnervenfunktionen, aber funktionell mit spinalen Regelkreisen verbunden – v. a. im Bereich der retikulospinalen Bahnen.
Daraus ergibt sich die begründbare These, dass das Rückenmark – in Interaktion mit Hirnstammstrukturen – auch über die Lokomotion hinaus an der motorischen Musterbildung beteiligt ist.
3. Neuroplastizität spinaler Systeme: Motorisches Lernen jenseits des Cortex?
Es ist bekannt, dass spinale Schaltkreise plastisch sind – etwa bei der Reorganisation nach Rückenmarksverletzungen, oder bei der Konditionierung automatisierter Bewegungssequenzen. Diese Plastizität kann sich auch ohne kortikale Vermittlung zeigen, insbesondere bei repetitivem Training.
Der Begriff „motorisches Lernen“ sollte daher nicht ausschließlich auf kortikale Konsolidierung bezogen werden. Vielmehr ist zu diskutieren, inwieweit Bewegungsprogramme subkortikal – insbesondere spinal – dauerhaft gespeichert werden können.
4. Schlussfolgerung
Die gängige dichotome Trennung zwischen „Gehirn = willentliche Steuerung“ und „Rückenmark = Reflex“ wird durch aktuelle Forschungsergebnisse zunehmend hinterfragt. Es ist gerechtfertigt, das Rückenmark als eigenständiges Organisationszentrum motorischer Aktivität zu betrachten – mit Relevanz auch für nicht-lokomotorische Funktionen.
Für das Verständnis von Rehabilitationsmechanismen, neurodegenerativen Erkrankungen und Bewegungskultivierung ergibt sich daraus ein erweiterter Rahmen:
Nicht alle Bewegungsmuster entstehen „im Kopf“. Ein erheblicher Teil ist möglicherweise im Rücken gespeichert.
English Abstract
Title: The Spinal Cord as a Central Motor Organizer: Evidence for a Systemic Role Beyond Locomotion
Abstract:
Motor control is often perceived as a predominantly cortical function, with the spinal cord acting merely as a conduit or reflex center. However, recent studies in neurorehabilitation and animal models challenge this view. Evidence suggests that the spinal cord can independently generate and coordinate complex motor patterns—even in the absence of supraspinal input. While most research has focused on locomotion, there are compelling indications that spinal structures also contribute to non-locomotor functions such as swallowing, respiration, and phonation. This article outlines the anatomical and functional basis for considering the spinal cord a fundamental site of motor pattern generation. It further argues for a reevaluation of the spinal cord’s role in motor learning and rehabilitation strategies.
Ausgewählte Quellen für Artikel 1: Rückenmark als Steuerzentrale
1. Courtine et al. – Lokomotion nach Rückenmarksverletzung
- Courtine, G., et al. (2009). Transformation of nonfunctional spinal circuits into functional states after the loss of brain input.
Nature Neuroscience, 12(10), 1333–1342.
DOI: 10.1038/nn.2401 - Wenger, N., et al. (2016). Spatiotemporal neuromodulation therapies engaging muscle synergies improve motor control after spinal cord injury.
Nature Medicine, 22, 138–145.
DOI: 10.1038/nm.4025
2. Grillner et al. – Zentralmuster (CPG) in Vertebraten
- Grillner, S., et al. (2005). Mechanisms for selection of basic motor programs – roles for the striatum and pallidum.
Trends in Neurosciences, 28(7), 364–370.
DOI: 10.1016/j.tins.2005.05.004 - Grillner, S. (2006). Biological pattern generation: The cellular and computational logic of networks in motion.
Neuron, 52(5), 751–766.
DOI: 10.1016/j.neuron.2006.11.008
3. Dimitrijevic et al. – Spinale Steuerung von Haltung und Tonus
- Dimitrijevic, M. R., et al. (1998). Spinal cord functions in humans.
Acta Neurobiologiae Experimentalis, 58(1), 1–20.
PMID: 9578690
4. Schlucken, Zungenmotorik & obere CPGs
- Jean, A. (2001). Brain stem control of swallowing: Neuronal network and cellular mechanisms.
Physiological Reviews, 81(2), 929–969.
DOI: 10.1152/physrev.2001.81.2.929 - Thexton, A. J. (1992). Mastication and swallowing: An overview.
British Dental Journal, 173(6), 197–206.
DOI: 10.1038/sj.bdj.4807981