SenGeKu- Vollständige und exakte Übersetzung 老子 (帛書校勘版),甲乙本合併補缺
Lao Tzu (Silk Book Mawangdui Edition), A und B kombiniert, um die Lücke zu schließen.
Kapitel 38 – Über die Innere Kraft
Die höchste innere Kraft trägt keine Absicht,
darum bewahrt sie ihre Kraft.
Die niedere innere Kraft hält fest an ihrer Absicht,
darum verliert sie ihre Kraft.
Die höchste innere Kraft handelt aus WuWei,
ohne dabei zu handeln.
Die höchste Menschlichkeit handelt,
doch ohne Absicht.
Die höchste Gerechtigkeit handelt,
doch mit Absicht.
Die höchste Ritualordnung handelt,
doch wenn niemand folgt,
dann erhebt sie die Arme und zwingt.
Darum folgt:
Verliert man das Dao,
bleibt die innere Kraft.
Verliert man die innere Kraft,
bleibt Menschlichkeit.
Verliert man Menschlichkeit,
bleibt Gerechtigkeit.
Verliert man Gerechtigkeit,
bleibt Ritualordnung.
Doch Ritualordnung ist nur die äußere Hülle
von Vertrauen und Aufrichtigkeit
und der Beginn des Zerfalls.
Vorheriges Wissen
ist nur ein blasses Abbild des Dao
und der Ursprung der Verwirrung.
Darum verweilt der große Mensch im Wesen,
nicht in der Hülle.
In der Frucht, nicht in der Blüte.
Darum lässt er das eine
und nimmt das andere.
Kapitel 39: Die Einheit
Seit alters her haben diejenigen, die das Eine bewahrten, folgendes erkannt:
Der Himmel bewahrt das Eine und bleibt klar.
Die Erde bewahrt das Eine und bleibt fest.
Die Geister bewahren das Eine und entfalten ihre Kraft.
Das Tal bewahrt das Eine und wird erfüllt.
Die Herrscher bewahren das Eine und bringen Ordnung in die Welt.
Ohne das Eine würde der Himmel zerreißen,
die Erde beben,
die Geister verlöschen,
das Tal austrocknen,
und die Herrscher stürzen.
Denn was hoch ist, gründet auf dem Niedrigen.
Was erhaben ist, wurzelt im Geringen.
Darum nennen sich die Herrscher selbst „einsam“, „gering“, „unwürdig“.
Ist dies nicht ein Hinweis darauf,
dass sie ihre Wurzeln im Niedrigen erkennen?
So geschieht es:
Glanzvolle Dinge erscheinen wertlos.
Grobe Steine erweisen sich als kostbar.
Kapitel 40 – Rückkehr und Wiederholung
Rückkehr ist die Bewegung des Dao.
Sanftheit ist seine Wirkung.
Alle Dinge entstehen aus dem Seienden.
Das Seiende entsteht aus dem Nichtseienden.
Kapitel 41 – Über das Hören des Dao
Der Weise hört das Dao
und übt es mit Hingabe.
Der Mittlere hört das Dao
und zweifelt zwischen Sein und Nichtsein.
Der Niedere hört das Dao
und lacht laut darüber.
Wenn er nicht lachte,
wäre es nicht das Dao.
Darum heißt es in den alten Worten:
Das helle Dao scheint trüb,
das voranschreitende Dao scheint rückläufig,
das ebene Dao scheint rau,
die höchste Innere Kraft scheint leer,
die größte Reinheit scheint beschmutzt,
die umfassendste Innere Kraft scheint ungenügend,
die gründlichste Innere Kraft scheint entwendet,
die wahre Substanz scheint wandelbar,
das vollkommene Quadrat hat keine Ecken,
das große Gefäß reift spät,
der große Klang ist kaum hörbar,
die große Gestalt ist ohne Form,
das Dao ist verborgen und ohne Namen.
Nur das Dao vermag
alles zu nähren und zu vollenden.
Kapitel 42 – Die Entfaltung der Vielheit aus dem Einen
Das Dao gebiert Das Eine.
Das Eine gebiert Zwei.
Zwei gebiert Drei.
Drei gebiert die zehntausend Dinge.
Die zehntausend Dinge tragen das Yin
und umarmen das Yang.
Durch das Ausgleichen der Kräfte
entsteht Harmonie.
Die Menschen verachten,
was sie „einsam“, „verlassen“ und „wertlos“ nennen,
doch genau das nehmen Herrscher als Titel an.
Denn manchmal
wird Verlust zum Gewinn,
und Gewinn führt zum Verlust.
Was die Menschen lehren,
das lehre auch ich:
„Ein ungestümes Wesen
findet keinen natürlichen Tod.“
Dies will ich als meine Lehre festhalten.
Kapitel 43 – Die Kraft des Weichen
Das Weichste unter dem Himmel
überwindet das Härteste.
Das Formlose
dringt ein in das Lückenlose.
Daran erkenne ich
den Wert des Nicht-Handelns.
Die Lehre ohne Worte,
der Nutzen des Nicht-Handelns –
nur wenige unter dem Himmel
verstehen dies wirklich.
Kapitel 44 – Maßhalten
Was ist dir näher – dein Name oder dein Selbst?
Was wiegt mehr – dein Selbst oder dein Besitz?
Was schadet mehr – Gewinn oder Verlust?
Wer übermäßig liebt,
zahlt einen hohen Preis.
Wer viel anhäuft,
hat viel zu verlieren.
Wer zufrieden ist,
wird nicht erniedrigt.
Wer Maß hält,
gerät nicht in Gefahr.
So kann man lange verweilen.
Kapitel 45 – Vollendung im Unvollständigen
Große Vollendung
erscheint als unvollständig,
doch ihr Nutzen bleibt unerschöpft.
Große Fülle
erscheint als leer,
doch ihr Wirken hat kein Ende.
Große Geradlinigkeit
scheint gebogen.
Große Kunstfertigkeit
scheint plump.
Große Beredsamkeit
scheint unbeholfen.
Stille überwindet Unruhe.
Kühle überwindet Hitze.
Durch Klarheit und Stille
wird die Welt in Ordnung gehalten.
Kapitel 46 – Zufriedenheit als Schutz
Wenn das Dao in der Welt herrscht,
laufen die Pferde gemächlich über die Felder.
Wenn das Dao verloren geht,
züchtet man Kriegspferde vor den Stadtmauern.
Es gibt kein größeres Unglück
als das Verlangen nach mehr.
Es gibt keinen größeren Fehler
als Nicht-Genug-Wissen.
Es gibt keine größere Gefahr
als das Streben nach Besitz.
Wer aber Zufriedenheit kennt,
dem wird nichts fehlen.
Wer weiß, wann er aufhören muss,
der bleibt unversehrt.
Kapitel 47 – Die Welt erkennen, ohne sie zu bereisen
Ohne die Tür zu verlassen,
kann man die Welt erkennen.
Ohne aus dem Fenster zu schauen,
kann man den Weg des Himmels sehen.
Je weiter man reist,
desto weniger versteht man.
Deshalb handelt der Weise nicht,
und doch versteht er.
Er sieht nicht mit den Augen,
und doch erkennt er.
Er erzwingt nichts,
und doch wird alles vollbracht.
Kapitel 48 – Vom Loslassen
Wer Wissen sucht,
fügt täglich hinzu.
Wer das Dao sucht,
nimmt täglich weg.
Er nimmt weg und nimmt weiter weg,
bis er zum Nicht-Handeln gelangt.
Durch Nicht-Handeln
bleibt nichts ungetan.
Wer die Welt beherrschen will,
sollte es ohne Mühe tun.
Wer es mit Mühe versucht,
ist nicht geeignet, die Welt zu führen.
Kapitel 49 – Das Herz des Weisen
Der Weise hat kein festes Herz –
er macht das Herz des Volkes zu seinem eigenen.
Den Guten begegnet er mit Güte.
Den Nicht-Guten begegnet er ebenfalls mit Güte.
So entfaltet sich die innere Kraft.
Den Wahrhaftigen begegnet er mit Vertrauen.
Den Nicht-Wahrhaftigen begegnet er ebenfalls mit Vertrauen.
So entfaltet sich die innere Wahrhaftigkeit.
Der Weise lebt in der Welt
mit weitem Herzen und tiefer Hingabe.
Die Menschen blicken zu ihm auf
und schenken ihm ihr Vertrauen,
denn er begegnet ihnen mit Offenheit.
Kapitel 50 – Leben und Tod
Zwischen Geburt und Tod:
Drei von zehn sind auf dem Weg des Lebens.
Drei von zehn sind auf dem Weg des Todes.
Drei von zehn bewegen sich
bereits im Bereich des Todes,
weil sie sich an das Leben klammern.
Warum ist das so?
Weil sie das Leben zu sehr lieben.
Ich habe gehört:
Wer das Leben wahrhaft pflegt,
wird nicht von Tieren verwundet,
nicht von Waffen getroffen.
Das Nashorn findet keinen Platz für sein Horn,
der Tiger keinen Raum für seine Krallen,
die Waffe keine Lücke für ihre Klinge.
Warum?
Weil er keinen Ort des Todes in sich trägt.
Kapitel 51 – Die Entfaltung aller Dinge
Das Dao bringt hervor,
die innere Kraft nährt.
Die Dinge formen sich,
die Umstände vollenden sie.
Darum verehren alle Wesen das Dao
und ehren die innere Kraft.
Die Verehrung des Dao
und die Achtung der inneren Kraft
geschieht nicht durch Befehl,
sondern folgt von selbst.
Das Dao bringt hervor,
die innere Kraft nährt,
führt zur Reife,
vollendet,
schützt,
hütet.
Es bringt hervor,
doch beansprucht nicht.
Es wirkt,
doch hält nicht fest.
Es entfaltet,
doch herrscht nicht.
Das ist die tiefste innere Kraft.
Kapitel 52 – Zurückkehren zur Quelle
Die Welt hat einen Ursprung –
dieser Ursprung ist die Mutter aller Dinge.
Wer die Mutter erkennt,
kennt auch das Kind.
Wer das Kind kennt
und zur Mutter zurückkehrt,
bleibt sein Leben lang unversehrt.
Schließe die Sinne,
und dein Herz bleibt ruhig.
Öffne die Sinne,
und Unruhe strömt herein.
Wer das Kleine sieht, ist erleuchtet.
Wer das Sanfte bewahrt, ist stark.
Nutze dein Licht
und kehre zurück zur Klarheit.
So vermeidest du Unglück.
Das ist der Weg zur Beständigkeit.
Kapitel 53 – Der Raub der Welt
Wenn ich auch nur ein wenig Einsicht hätte,
würde ich dem großen Weg folgen
und nur eine Sache fürchten:
vom Weg abzukommen.
Der große Weg ist sehr eben,
doch die Menschen lieben Umwege.
Die Paläste strahlen in Pracht,
doch die Felder liegen brach,
die Vorratskammern sind leer.
Die Herrscher tragen prunkvolle Gewänder,
führen scharfe Schwerter,
stopfen sich mit Speisen voll
und horten Reichtümer im Überfluss.
Das ist Raub und Prahlerei.
Es ist nicht der Weg.
Kapitel 54 – Die Kraft der Wurzel
Was gut gegründet ist,
kann nicht entwurzelt werden.
Was gut umschlossen ist,
kann nicht entrissen werden.
So wird die Verehrung
von Generation zu Generation weitergegeben.
Pflege die innere Kraft in dir –
sie wird wahrhaftig sein.
Pflege sie in deiner Familie –
sie wird überfließen.
Pflege sie in deinem Dorf –
sie wird sich entfalten.
Pflege sie im Land –
sie wird gedeihen.
Pflege sie in der Welt –
sie wird allgegenwärtig sein.
So erkenne das Selbst im Selbst,
die Familie in der Familie,
das Dorf im Dorf,
das Land im Land,
die Welt in der Welt.
Wie kann ich wissen,
dass dies so ist?
Durch die Kultivierung der inneren Kraft.
Kapitel 55 – Das Kind der inneren Kraft
Wer voll innerer Kraft ist,
gleicht einem Neugeborenen:
Giftige Tiere stechen ihn nicht,
wilde Tiere reißen ihn nicht,
Raubvögel schlagen nicht nach ihm.
Seine Knochen sind weich,
seine Sehnen biegsam,
doch sein Griff ist fest.
Er kennt die Vereinigung von Mann und Frau,
doch bleibt seine Kraft unversehrt.
Seine Lebenskraft ist vollkommen.
Er schreit den ganzen Tag,
doch seine Stimme wird nicht heiser.
Seine Harmonie ist vollkommen.
Wer Harmonie versteht, kennt das Ewige.
Wer das Ewige versteht, ist erleuchtet.
Wer das Leben verstärkt,
wird stark.
Doch was zu stark ist,
altert schnell.
Was gegen den Weg geht,
endet früh.
Kapitel 56 – Das Geheimnis des Weisen
Wer weiß, spricht nicht.
Wer spricht, weiß nicht.
Er schließt die Sinne,
dämpft die Impulse,
löst die Verstrickungen,
klärt das Licht,
gleicht sich dem Staub an.
Das ist die Einheit des Mysteriums.
Darum kann man ihn nicht binden
und nicht lösen,
nicht gewinnen
und nicht verlieren,
nicht ehren
und nicht erniedrigen.
Er ist der wahre Schatz der Welt.
Kapitel 57 – Das Reich regieren
Mit Gerechtigkeit führt man ein Land.
Mit List führt man einen Krieg.
Mit Nicht-Eingreifen erlangt man die Welt.
Woher weiß ich, dass es so ist?
Durch das, was vor mir liegt:
Je mehr Verbote es gibt,
desto ärmer das Volk.
Je mehr Waffen es gibt,
desto chaotischer das Land.
Je mehr Gesetze es gibt,
desto größer die Zahl der Diebe.
Darum sagt der Weise:
Ich handle nicht,
und das Volk verwandelt sich von selbst.
Ich bleibe ruhig,
und das Volk richtet sich selbst aus.
Ich greife nicht ein,
und das Volk wird wohlhabend.
Ich begehre nicht,
und das Volk wird schlicht.
Kapitel 58 – Die Kunst des Regierens
Wenn die Regierung zurückhaltend ist,
sind die Menschen ehrlich und einfach.
Wenn die Regierung übermäßig kontrolliert,
werden die Menschen listig und arm.
Unglück birgt das Samenkorn des Glücks.
Glück verbirgt die Wurzel des Unglücks.
Wer weiß, wohin es sich wendet?
Es gibt keine feste Ordnung.
Das Normale wird seltsam,
das Gute wird zu Aberglauben.
Die Menschen waren schon lange verwirrt.
Darum ist der Weise:
klar, aber nicht verletzend,
gerecht, aber nicht schneidend,
geradlinig, aber nicht hart,
leuchtend, aber nicht blendend.
Kapitel 59 – Das Geheimnis der Langlebigkeit
Das beste Regieren ist Sparsamkeit.
Sparsamkeit bedeutet, früh zu beginnen.
Früh beginnen bedeutet, innere Kraft aufzubauen.
Wer innere Kraft ansammelt,
wird unaufhaltsam.
Wer nicht mehr begrenzt ist,
kann ein Land führen.
Wer die Mutter eines Landes kennt,
kann lange bestehen.
Das ist die tiefe Verwurzelung,
der feste Halt,
der Weg zu langem Leben und klarem Sehen.
Kapitel 60 – Die Welt regieren
Ein großes Land regieren
ist wie ein kleines Fischgericht zubereiten:
zu viel Einmischung verdirbt es.
Regiert man mit dem Dao,
verlieren dunkle Kräfte ihre Macht.
Nicht, weil sie nicht mehr existieren,
sondern weil sie den Menschen nicht mehr schaden.
Nicht, weil sie nichts mehr tun,
sondern weil der Weise ihnen keinen Raum gibt.
Wenn niemand mehr schadet,
kehrt die innere Kraft zurück.
Kapitel 61 – Die Kraft der Demut
Ein großes Land ist wie ein tiefer Strom,
der sich senkt, um Flüsse zu empfangen.
Das Weibliche überwindet das Männliche
durch Stille und Nachgiebigkeit.
Darum liegt die wahre Stärke im Unterliegen.
Ein großes Land, das sich klein macht,
gewinnt die Herzen kleinerer Länder.
Ein kleines Land, das sich demütig zeigt,
gewinnt Schutz und Frieden.
So gewinnt der eine,
indem er nachgibt.
So entsteht wahre Einheit.
Kapitel 62 – Das Dao als Zuflucht
Das Dao ist das verborgene Juwel aller Dinge.
Es ist der Schatz des Weisen
und der Schutz des Unweisen.
Gute Worte kann man schätzen.
Gute Taten verdienen Anerkennung.
Doch warum sollte man jene, die fehlen, verstoßen?
Darum, wenn ein Herrscher gekrönt wird
oder Minister ernannt werden,
ist es besser, das Dao zu bewahren,
als Juwelen zu verschenken und Pferde anzubieten.
Warum schätzten die Alten das Dao?
Weil es den Suchenden gab,
und den Schuldigen verzieh.
Darum ist es das höchste Gut der Welt.
Kapitel 63 – Der Weg zum Großen
Tu das Nicht-Tun.
Kümmere dich um das Nicht-Anliegen.
Schmecke das Geschmacklose.
Das Große entsteht aus dem Kleinen.
Das Schwierige beginnt mit dem Einfachen.
Darum beginnt der Weise nie mit dem Großen,
und gerade deshalb kann er es vollenden.
Wer leichtfertig verspricht,
verliert Vertrauen.
Wer Dinge zu einfach nimmt,
wird auf Hindernisse stoßen.
Darum ist der Weise vorsichtig –
und bleibt frei von Schwierigkeiten.
Kapitel 64 – Den Anfang verstehen
Was in Ruhe ist, kann man leicht halten.
Was noch nicht geschehen ist, kann man leicht lenken.
Was zerbrechlich ist, kann man leicht brechen.
Was fein ist, kann man leicht auflösen.
Handle, bevor es Form annimmt.
Regle, bevor Unordnung entsteht.
Ein großer Baum beginnt als kleiner Spross.
Ein neunstöckiger Turm beginnt mit einem Häufchen Erde.
Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.
Wer gierig greift, verliert.
Wer festhält, lässt entgleiten.
Darum mischt sich der Weise nicht ein,
und nichts misslingt ihm.
Kapitel 65 – Die Kunst der Führung
Die Alten, die mit dem Dao regierten,
wollten das Volk nicht klug machen,
sondern einfach lassen.
Wenn Menschen zu viel Wissen anhäufen,
wird das Land schwer regierbar.
Wer mit Klugheit regiert,
zerstört das Land.
Wer mit Einfachheit regiert,
bringt Glück.
Verstehe diese beiden Wege.
Erkenne, was sie bedeutet.
Dieses Wissen ist die tiefe innere Kraft.
Tiefe innere Kraft ist weit und tief.
Sie geht den natürlichen Lauf der Dinge,
und alles ordnet sich von selbst.
Kapitel 66 – Die Kraft des Niedrigen
Warum fließen die Flüsse ins Meer?
Weil es sich tiefer hält als sie.
Darum:
Wer über Menschen sein will,
sollte sich ihnen unterordnen.
Wer vor den Menschen sein will,
sollte sich zurücknehmen.
Darum stellt sich der Weise hinten an
und ist doch an der Spitze.
Er bleibt bescheiden,
und doch folgen ihm die Menschen.
Weil er nicht kämpft,
kann niemand gegen ihn kämpfen.
Kapitel 67 – Die drei Schätze
Alle sagen, mein Weg sei groß,
und doch scheint er unbrauchbar.
Gerade weil er groß ist,
scheint er nicht in die Welt zu passen.
Ich habe drei Schätze,
die ich halte und bewahre:
Die erste ist Mitgefühl.
Die zweite ist Einfachheit.
Die dritte ist, sich nicht in den Vordergrund zu drängen.
Mit Mitgefühl kann man wahrhaft mutig sein.
Mit Einfachheit kann man großzügig sein.
Wer nicht an der Spitze stehen will,
kann ein wahrer Führer sein.
Doch wer Mitgefühl aufgibt und nur mutig sein will,
wer Einfachheit aufgibt und nur Erfolg sucht,
wer Demut aufgibt und sich vordrängt –
der ist dem Untergang geweiht.
Mit Mitgefühl gewinnt man im Kampf,
und mit Mitgefühl hält man das Land zusammen.
Wer vom Himmel bewahrt wird,
wird mit Mitgefühl geschützt.
Kapitel 68 – Die wahre Stärke
Wer wirklich fähig ist, kämpft nicht.
Wer gut im Krieg ist, wird nicht wütend.
Wer Feinde besiegt, meidet Konfrontation.
Wer Menschen führt, bleibt bescheiden.
Das nennt man die Kraft des Nicht-Widerstreitens.
Das nennt man den richtigen Umgang mit Menschen.
Das nennt man in Übereinstimmung mit dem Himmel.
Das ist der Weg des Alten.
Kapitel 69 – Die Kunst des Rückzugs
Die Alten sagten:
„Ich wage nicht, den Angriff zu führen,
sondern bleibe in der Verteidigung.
Ich rücke nicht vor, sondern weiche zurück.“
Das nennt man:
Bewegen ohne Bewegung.
Heben ohne Arme.
Treffen ohne Gegner.
Halten ohne Waffen.
Kein Unheil ist größer als den Feind zu unterschätzen.
Wer ihn unterschätzt, verliert seinen größten Schatz.
Wenn sich zwei Armeen gegenüberstehen,
wird diejenige siegen,
die mit Trauer kämpft.
Kapitel 70 – Verborgene Weisheit
Meine Worte sind leicht zu verstehen
und leicht zu praktizieren.
Doch niemand in der Welt versteht sie,
und niemand handelt danach.
Worte müssen eine Wurzel haben.
Handlungen müssen einen Herrn haben.
Die Unwissenden verstehen mich nicht.
Wenige sind es, die mich erkennen.
Wer mich erkennt,
ist kostbar.
Darum trägt der Weise grobe Gewänder,
doch in seinem Inneren verbirgt er Juwelen.
Kapitel 71 – Die Krankheit des Wissens
Wissen, dass man nicht weiß,
ist die höchste Erkenntnis.
Nicht wissen, aber glauben, dass man weiß,
ist eine Krankheit.
Nur wer diese Krankheit als Krankheit erkennt,
kann gesund werden.
Der Weise erkennt seine eigene Krankheit,
darum bleibt er frei von ihr.
Kapitel 72 – Furcht und Freiheit
Wenn das Volk keine Angst vor der Macht hat,
dann kommt eine größere Angst.
Beenge nicht ihren Lebensraum,
mache ihnen ihr Leben nicht unerträglich.
Wenn du sie nicht bedrückst,
werden sie sich nicht gegen dich erheben.
Darum:
Der Weise kennt sich selbst,
doch stellt sich nicht zur Schau.
Er liebt sich selbst,
doch erhebt sich nicht über andere.
So lässt er das Unwichtige los
und hält an dem Wahren fest.
Kapitel 73 – Das Netz des Himmels
Wer mutig ist und rücksichtslos,
wird getötet.
Wer mutig ist und nachsichtig,
wird bewahrt.
Manche Wege bringen Nutzen,
andere schaden.
Wer kann das wissen?
Der Weg des Himmels
wetteifert nicht,
doch gewinnt stets.
Er spricht nicht,
doch wird geantwortet.
Er ruft nicht,
doch kommen die Dinge zu ihm.
Er plant nicht,
doch geschieht alles zur rechten Zeit.
Das Netz des Himmels ist weit
und seine Maschen sind grob,
doch nichts entgeht ihm.
Kapitel 74 – Die natürliche Ordnung
Wenn die Menschen keine Angst vor dem Tod haben,
wie kann man sie mit dem Tod erschrecken?
Doch wenn sie stets den Tod fürchten,
und jemand bricht die Ordnung,
wer wagt es dann, ihn zu töten?
Das Gesetz des Todes wird immer walten.
Wer sich anmaßt, es zu vollstrecken,
ist wie ein Lehrling,
der für den Meister schnitzt.
Wenige bleiben unversehrt.
Kapitel 75 – Warum das Volk leidet
Die Menschen hungern,
weil die Herrscher zu viel Steuern nehmen.
Darum hungern sie.
Die Menschen sind schwer zu regieren,
weil die Herrscher zu viel eingreifen.
Darum sind sie schwer zu regieren.
Die Menschen fürchten den Tod nicht,
weil die Herrscher das Leben zu sehr schätzen.
Darum fürchten sie den Tod nicht.
Wer das Leben zu sehr liebt,
ist nicht würdiger als jener,
der nichts zu verlieren hat.
Kapitel 76 – Die Kraft der Sanftheit
Im Leben ist der Mensch weich und biegsam.
Im Tod ist er hart und starr.
Die Bäume und Pflanzen,
wenn sie wachsen, sind sie zart und flexibel.
Wenn sie sterben, sind sie trocken und spröde.
So ist es:
Das Harte und Starre folgt dem Tod.
Das Weiche und Nachgiebige gehört zum Leben.
Darum:
Ein starres Heer wird besiegt.
Ein unnachgiebiger Baum wird gefällt.
Das Große und Starke steht unten,
das Weiche und Schwache steht oben.
Kapitel 77 – Das Gleichgewicht des Himmels
Der Weg des Himmels
ist wie das Spannen eines Bogens:
Das Hohe wird gesenkt,
das Tiefe wird gehoben.
Das Übermäßige wird gemindert,
das Fehlende wird ergänzt.
Der Weg des Himmels
nimmt vom Überfluss
und gibt dem Mangel.
Doch der Weg der Menschen
ist nicht so:
Er nimmt vom Armen,
um dem Reichen zu geben.
Wer aber besitzt genug,
um dem ganzen Himmel zu geben?
Nur derjenige,
der dem Dao folgt.
Darum:
Der Weise wirkt,
doch beansprucht nichts.
Er vollbringt,
doch hält nichts fest.
Er will nicht,
dass seine Größe sichtbar wird.
Kapitel 78 – Die Weisheit des Wassers
Nichts auf der Welt
ist weicher und nachgiebiger als Wasser.
Doch nichts übertrifft es darin,
das Harte und Starke zu bezwingen.
Es gibt nichts, das es ersetzen könnte.
Jeder weiß,
dass das Weiche das Harte besiegt,
dass das Schwache das Starke überwindet.
Doch nur wenige handeln danach.
Darum sagt der Weise:
Wer die Beschimpfung seines Landes erträgt,
kann Herr der Gemeinschaft werden.
Wer das Unglück seines Volkes trägt,
kann König der Welt werden.
Die Wahrheit klingt oft paradox.
Kapitel 79 – Das unausweichliche Gleichgewicht
Wenn große Feindschaft
durch einen Vergleich beendet wird,
bleibt stets ein Rest von Groll.
Wie kann das als wahre Lösung gelten?
Darum hält der Weise
die linke Schuldurkunde und fordert nicht ein.
Der Edle bewahrt seinen Teil,
der Unehrenhafte fordert den anderen zur Zahlung auf.
Der Weg des Himmels kennt keine Parteinahme,
doch steht er stets auf der Seite des Guten.
Kapitel 80 – Das Ideal des Einfachen
Ein kleines Land mit wenigen Menschen:
Sie hätten Werkzeuge,
doch bräuchten sie nicht.
Sie hätten Schiffe und Wagen,
doch führten sie nicht aus.
Sie hätten Waffen und Rüstungen,
doch stellten sie sie nicht auf.
Sie würden Knoten binden,
statt Schriften zu verwenden.
Sie würden ihre Speisen genießen,
ihre Kleidung bewundern,
ihre Häuser bewohnen,
und ihre Bräuche lieben.
Von einem Nachbardorf
würde man die Hunde bellen hören,
die Hähne krähen,
doch bis zum hohen Alter
gäbe es keinen Grund,
einander zu besuchen.
Kapitel 81 – Wahre Worte
Wahre Worte sind nicht schön,
schöne Worte sind nicht wahr.
Der Weise streitet nicht,
der Streitende ist nicht weise.
Wer wirklich weiß,
ist nicht gelehrt.
Wer gelehrt ist,
weiß nicht wirklich.
Der Weise sammelt nicht an:
Er gibt und hat umso mehr.
Er teilt und gewinnt umso mehr.
Der Weg des Himmels
hilft und schadet nicht.
Der Weg des Weisen
wirkt, doch streitet nicht.
Kapitel 1 – Der Weg jenseits der Worte
Der Weg, den man benennen kann,
ist nicht der ewige Weg.
Die Bezeichnung, die man geben kann,
ist nicht die ewige Bezeichnung.
Das Namenlose ist der Ursprung von Himmel und Erde.
Das Benannte ist die Mutter der zehntausend Dinge.
Wer ohne Wünsche ist,
erkennt das Wesentliche.
Wer Wünsche hat,
sieht nur die Erscheinungen.
Diese beiden entspringen derselben Quelle,
sind aber verschieden benannt.
Zusammen sind sie das Geheimnis.
Das Geheimnis im Geheimnis –
das Tor zu allem Wunderbaren.
Kapitel 2 – Die Gegensätze
Wenn alle wissen, was Schönheit ist,
dann gibt es auch Hässlichkeit.
Wenn alle wissen, was das Gute ist,
dann gibt es auch das Schlechte.
Sein und Nichtsein entstehen gemeinsam.
Schwierig und leicht ergänzen sich.
Lang und kurz bestimmen sich gegenseitig.
Hoch und tief neigen sich zueinander.
Klang und Ton verschmelzen zu Harmonie.
Vorher und Nachher folgen einander.
Deshalb handelt der Weise ohne Absicht,
lehrt ohne Worte.
Die zehntausend Dinge entstehen,
doch er beansprucht sie nicht.
Er wirkt, aber haftet nicht.
Er vollendet, aber besitzt nicht.
Gerade weil er nicht festhält,
geht nichts verloren.
Kapitel 3 – Ohne Wettstreit
Erhebt man die Fähigen nicht,
streiten die Menschen nicht.
Schätzt man schwer Erreichbares gering,
gibt es keine Diebe.
Zeigt man Begehrenswertes nicht,
bleibt das Herz der Menschen unberührt.
Deshalb lenkt der Weise so:
Er leert das Herz,
füllt den Bauch,
schwächt den Willen,
stärkt die Knochen.
Er sorgt dafür, dass das Volk
ohne Wissen und Wünsche bleibt.
Und dass jene, die wissen,
nicht wagen einzugreifen.
Wenn er nicht handelt,
herrscht Ordnung.
Kapitel 4 – Unerschöpflich wie das Dao
Das Dao ist wie ein leerer Krug,
den man nicht füllen kann.
Unfassbar tief –
der Ursprung aller Dinge.
Es stumpft die Schärfe,
löst die Knoten,
mildert das Licht,
verbindet mit der Erde.
Rein und ruhig –
ich weiß nicht, woher es kommt.
Es war schon da,
noch vor den Göttern.
Kapitel 5 – Jenseits von Gut und Böse
Himmel und Erde sind unbarmherzig,
sie behandeln die zehntausend Dinge wie Strohpuppen.
Der Weise ist unbarmherzig,
er behandelt die Menschen wie Strohpuppen.
Der Raum zwischen Himmel und Erde –
wie ein Blasebalg:
Leer, doch unerschöpflich.
Bewegt man ihn,
strömt er umso mehr.
Viele Worte erschöpfen sich selbst.
Besser ist es,
in der Mitte zu verweilen.
Kapitel 6 – Die immerwährende Quelle
Der Geist des Tales stirbt nicht –
er ist das verborgene Weibliche.
Das Tor des Verborgenen –
die Wurzel von Himmel und Erde.
Sanft und endlos fließend,
wirkt es ohne Anstrengung.
Kapitel 7 – Selbstlosigkeit des Dao
Der Himmel ist ewig, die Erde währt lange.
Warum sind Himmel und Erde ewig?
Weil sie nicht für sich selbst leben.
Darum können sie fortbestehen.
Der Weise stellt sich selbst zurück,
und gerade deshalb steht er an vorderster Stelle.
Er hält sich selbst heraus,
und gerade deshalb bleibt er erhalten.
Ist es nicht so?
Indem er nicht für sich lebt,
vollendet er sich selbst.
Kapitel 8 – Die höchste Güte
Die höchste Güte ist wie Wasser.
Wasser nützt allen Wesen,
es streitet mit niemandem.
Es sucht den niedrigsten Ort,
den die Menschen verachten.
Darum ist es dem Dao nahe.
In der Wohnung – das rechte Maß.
Im Denken – Tiefe.
In der Freundschaft – Güte.
Im Reden – Wahrheit.
Im Herrschen – Ordnung.
Im Tun – Fähigkeit.
Im Handeln – der rechte Zeitpunkt.
Da es nicht streitet,
gibt es keinen Fehler.
Kapitel 9 – Maßhalten
Ein übervoller Becher
lässt sich nicht lange halten.
Ein zu scharf geschliffenes Schwert
kann nicht lange genutzt werden.
Reichtum und Macht,
die man an sich reißt,
bringen den Untergang.
Ist das Werk vollbracht,
ziehe dich zurück.
So ist der Weg des Dao.
Kapitel 10 – Die Kunst des Dao
Kannst du dein Herz umarmen
und den Geist sammeln, ohne zu zerstreuen?
Kannst du dein Qi lenken
und sanft wie ein Neugeborenes sein?
Kannst du dein inneres Sehen reinigen,
ohne Makel zu hinterlassen?
Kannst du das Volk lieben
und doch nicht lenken?
Kannst du die Tore des Himmels öffnen
und wie eine Frau sein?
Kannst du verstehen,
ohne Wissen zu erzwingen?
Gebäre die Dinge,
ernähre sie,
bringe hervor,
besitze nicht.
Führe, aber herrsche nicht.
Das ist die tiefe innere Kraft.
Kapitel 11 – Das Nutzen des Nichts
Dreißig Speichen vereinen sich zur Nabe,
doch die Leere in ihrer Mitte
macht das Rad nützlich.
Man formt Ton zu einem Gefäß,
doch die Leere darin
macht es nützlich.
Man bricht Türen und Fenster in ein Haus,
doch die Leere darin
macht es bewohnbar.
So bringt das Sein Vorteile,
doch das Nichtsein macht es nützlich.
Kapitel 12 – Die Sinne und das Herz
Die fünf Farben blenden das Auge.
Die fünf Klänge betäuben das Ohr.
Die fünf Geschmäcker stumpfen den Gaumen ab.
Jagen und Hetzen
verwirren den Geist.
Seltene Güter
verführen zum Irrtum.
Darum hält sich der Weise
an das Innere
und nicht an die Sinne.
Er lässt das Äußere
und wählt das Herz.
Kapitel 13 – Lob und Angst
Lob und Schmach
sind gleich zu fürchten.
Große Sorge
entsteht durch den Körper.
Was bedeutet das?
Lob und Schmach
sind eine Last.
Hat man sie erhalten,
fürchtet man sie zu verlieren.
Hat man sie verloren,
fürchtet man, sie nicht zurückzuerlangen.
Warum ist große Sorge
an den Körper gebunden?
Weil wir einen Körper haben,
machen wir uns Sorgen.
Geben wir den Körper auf,
haben wir nichts mehr zu fürchten.
Darum:
Wer sich selbst für die Welt hingibt,
dem kann man die Welt anvertrauen.
Wer die Welt liebt wie sich selbst,
dem kann man sie überlassen.
Kapitel 14 – Das Unsichtbare
Man schaut es an,
doch es ist nicht zu sehen – es ist das Unsichtbare.
Man hört es,
doch es ist nicht zu hören – es ist das Unhörbare.
Man greift danach,
doch es ist nicht zu fassen – es ist das Unfassbare.
Diese drei kann man nicht durchdringen,
und doch verschmelzen sie zu einem.
Oben nicht hell,
unten nicht dunkel,
unaufhörlich strömend,
kehrt es ins Formlose zurück.
Man nennt es die Form des Formlosen,
das Bild des Nichtseins.
Man begegnet ihm nicht von vorn,
man folgt ihm nicht von hinten.
Doch wer im Einklang mit dem Dao lebt,
der versteht den alten Ursprung.
Das ist der Faden des Dao.
Kapitel 15 – Die alten Meister
Die alten Meister des Dao
waren tiefgründig und verborgen.
Ihr Wissen war unergründlich.
Weil sie nicht zu erfassen waren,
kann man sie nur beschreiben:
Vorsichtig, als gingen sie über dünnes Eis.
Achtsam, als fürchteten sie Nachbarn.
Zurückhaltend, als seien sie zu Gast.
Fließend, wie schmelzender Schnee.
Schlicht, wie unbearbeitetes Holz.
Weit, wie ein Tal.
Unklar, wie trübes Wasser.
Wer kann trübes Wasser klären?
Lass es ruhen,
und es wird klar.
Wer kann zur Ruhe kommen?
Lass Bewegung geschehen,
und Klarheit wird entstehen.
Wer dem Dao folgt,
sucht keine Fülle.
Weil er nicht über sich hinausgeht,
bleibt er unversehrt.
Kapitel 16 – Rückkehr zum Ursprung
Erreiche das Äußerste der Leere,
bewahre vollkommene Stille.
Die Dinge entstehen ringsum,
ich sehe, wie sie zurückkehren.
Alles kehrt zu seiner Wurzel zurück.
Rückkehr zur Wurzel ist Stille.
Stille ist Rückkehr zum Ursprung.
Rückkehr zum Ursprung ist das Dao.
Wer das Dao erkennt, ist erleuchtet.
Wer es nicht erkennt, ist verloren.
Wer das Dao erkennt,
ist nachsichtig.
Nachsicht führt zur Ganzheit.
Ganzheit führt zur Harmonie mit dem Himmel.
Harmonie mit dem Himmel führt zum Dao.
Das Dao führt zur Dauer.
Wer sich dem Dao hingibt, vergeht nicht.
Kapitel 17 – Die unsichtbare Führung
Die besten Herrscher
sind kaum bekannt.
Die nächstbesten werden geliebt und geehrt.
Dann kommen jene, die gefürchtet werden.
Und schließlich jene, die verachtet werden.
Wer nicht vertraut,
erweckt kein Vertrauen.
Der Weise spricht wenig.
Er lässt die Dinge geschehen,
sodass die Menschen sagen:
„Es geschah von selbst.“
Kapitel 18 – Der Verfall der Harmonie
Wenn das große Dao verloren geht,
entstehen Tugend und Moral.
Wenn Klugheit und Wissen aufkommen,
beginnt die große Täuschung.
Wenn die Familie zerbricht,
kommen Gehorsam und Liebe.
Wenn das Land ins Chaos fällt,
erscheinen treue Minister.
Kapitel 19 – Rückkehr zur Einfachheit
Gib Gelehrsamkeit auf,
wirf Klugheit fort –
und die Menschen profitieren tausendfach.
Gib Moral auf,
wirf Gerechtigkeit fort –
und die Menschen kehren zur Güte zurück.
Gib Geschicklichkeit auf,
wirf Gewinnstreben fort –
und es gibt keine Diebe mehr.
Diese drei Dinge sind nur äußere Regeln.
Darum zeige den Menschen:
Lebe schlichter,
halte dich an das Unverfälschte,
halte deine Wünsche gering.
Kapitel 20 – Jenseits von Wissen
Lass Gelehrsamkeit fahren,
und du bist frei von Sorgen.
Was ist der Unterschied
zwischen Ja und Nein?
Zwischen Gut und Böse?
Muss ich fürchten,
was andere fürchten?
Die Menschen freuen sich und feiern,
als stiegen sie auf hohe Türme.
Ich allein bleibe ruhig,
als wäre ich noch nicht geboren.
Ich schweige,
als wüsste ich nicht wohin.
Die Menschen haben Überfluss,
ich allein besitze nichts.
Ich bin wie ein Narr,
mein Herz ist verworren.
Andere strahlen,
ich bin düster.
Andere sind klug,
ich bin stumpf.
Andere sind zielgerichtet,
ich treibe dahin,
wie das Meer,
wie der Wind ohne Halt.
Jeder hat seinen Zweck.
Ich allein bleibe einfach.
Ich bin anders als die anderen,
denn ich nähre mich am Dao.
Kapitel 21 – Das Dao zeigt sich durch die innere Kraft
Die höchste innere Kraft
folgt dem Dao.
Das Dao ist unfassbar und verschwommen.
Verschwommen und unfassbar –
und doch birgt es Gestalt.
Unfassbar und verschwommen –
und doch enthält es Wesen.
Dunkel und tief –
und doch enthält es die Essenz.
Diese Essenz ist vollkommen wahr.
Seit Anbeginn bis heute
geht ihre Wirkkraft nicht verloren.
Sie enthüllt den Ursprung aller Dinge.
Woher weiß ich,
dass das Dao so wirkt?
Durch das Dao selbst.
Kapitel 22 – Die Kraft der Nachgiebigkeit
Wer sich beugt, bleibt ganz.
Wer sich krümmt, wird gerade.
Wer sich leert, wird erfüllt.
Wer sich abnutzt, wird erneuert.
Wer wenig besitzt, gewinnt.
Wer viel besitzt, verliert.
Deshalb folgt der Weise dem Dao:
Er hält sich zurück und wird zum Führer.
Er stellt sich nicht heraus und wird erkannt.
Er beansprucht nichts für sich und hat Erfolg.
Er bleibt bescheiden und wird erhöht.
Weil er nicht kämpft,
kann niemand gegen ihn kämpfen.
Die Alten sagten:
„Wer sich beugt, bleibt ganz.“
Ist das ein leeres Wort?
Wer dem Dao folgt,
wird ganz und vollkommen.
Kapitel 23 – Weniger Worte, mehr Wirkung
Die Natur spricht nicht viel.
Ein Sturm dauert nicht den ganzen Morgen,
ein Regenguss hält nicht den ganzen Tag.
Wer bewirkt dies?
Himmel und Erde.
Wenn selbst sie nicht lange wirken,
wie viel weniger der Mensch?
Wer dem Dao folgt,
ist eins mit dem Dao.
Wer der inneren Kraft folgt,
ist eins mit der inneren Kraft.
Wer dem Verlust folgt,
ist eins mit dem Verlust.
Wer sich dem Dao öffnet,
das Dao empfängt ihn.
Wer sich der inneren Kraft öffnet,
die innere Kraft trägt ihn.
Wer sich dem Verlust öffnet,
der Verlust umhüllt ihn.
Wem es an Vertrauen fehlt,
dem wird nicht vertraut.
Kapitel 24 – Selbstherrlichkeit führt zum Fall
Wer auf Zehenspitzen steht,
steht nicht fest.
Wer sich zur Schau stellt,
scheint nicht hell.
Wer sich selbst lobt,
erlangt keinen Ruhm.
Wer sich über andere stellt,
hat keine Führungskraft.
Für das Dao sind solche Menschen
wie übrig gebliebene Speisereste –
jeder verabscheut sie.
Darum folgt der Weise dem Dao
und hält sich davon fern.
Kapitel 25 – Das Eine hinter allem
Etwas gibt es –
es war da vor Himmel und Erde.
Still, grenzenlos,
es steht für sich allein
und verändert sich nicht.
Es durchdringt alles
und ermüdet nie.
Man kann es Dao nennen.
Doch wenn man es benennt,
bleibt es dennoch unfassbar.
Groß ist das Dao.
Groß ist der Himmel.
Groß ist die Erde.
Groß ist der Mensch,
der sich dem Dao anvertraut.
Der Mensch folgt der Erde.
Die Erde folgt dem Himmel.
Der Himmel folgt dem Dao.
Das Dao folgt sich selbst.
Kapitel 26 – Die Schwere gibt Halt
Das Schwere ist die Wurzel des Leichten.
Die Ruhe ist der Herr des Hastigen.
Darum bleibt der Weise,
selbst in Ehren, gelassen.
Auch inmitten von Pracht
bleibt er unerschütterlich.
Warum sollte ein Herrscher,
der die Welt regieren will,
leichtfertig handeln?
Wer Leichtfertigkeit über die Schwere stellt,
verliert den Halt.
Wer Hast über die Ruhe stellt,
verliert die Kontrolle.
Kapitel 27 – Der Weg des Meisters
Wer wahrhaft geht, hinterlässt keine Spuren.
Wer wahrhaft spricht, macht keine Fehler.
Wer wahrhaft rechnet, braucht keine Zahlen.
Wer wahrhaft verschließt, braucht keine Riegel,
und dennoch kann niemand öffnen.
Wer wahrhaft bindet, braucht keine Stricke,
und dennoch kann niemand lösen.
Der Weise hilft den Menschen,
er verwirft niemanden.
Er hilft den Dingen,
er verschmäht nichts.
Das ist das Licht der Erkenntnis.
Deshalb ist der Weise
Lehrer der Unwissenden,
und der Unwissende
ist das Übungsfeld des Weisen.
Wer seinen Lehrer nicht ehrt
und seinen Schüler verachtet,
irrt auf dem Weg.
Das ist das tiefe Geheimnis.
Kapitel 28 – Die Rückkehr zum Ursprung
Wer seine Stärke kennt
und seine Sanftheit bewahrt,
wird zur Quelle der Welt.
Er ist wie ein Fluss,
der sich dem Meer anvertraut.
So kehrt er zum Dao zurück.
Wer seine Helligkeit kennt
und seine Dunkelheit bewahrt,
wird zum Vorbild für alle.
Er ist wie ein Licht,
das sich nicht in den Vordergrund drängt.
So kehrt er zum Dao zurück.
Wer seinen Ruhm kennt
und seine Demut bewahrt,
wird zum Tal der Welt.
Er ist wie die Erde,
die alles aufnimmt.
So kehrt er zum Dao zurück.
Indem er sich dem Dao überlässt,
wird er eins mit ihm.
So wird er wie ein roher Block,
der noch alle Möglichkeiten enthält.
Wenn der Weise den rohen Block
nicht zerteilt,
bleiben die Dinge in ihrer Vollkommenheit.
Das größte Werkzeug
ist ohne Schnitt und Form.
Kapitel 29 – Die Welt lässt sich nicht erzwingen
Wer die Welt ergreifen will,
um sie zu formen,
wird scheitern.
Die Welt ist ein heiliges Gefäß,
sie lässt sich nicht erzwingen.
Wer sie beherrscht, verdirbt sie.
Wer sie festhält, verliert sie.
Manches geht voran,
manches bleibt zurück.
Manches blüht,
manches verdorrt.
Manches ist stark,
manches schwach.
Manches wächst,
manches vergeht.
Darum meidet der Weise
die Extreme,
die Übertreibung
und das Zerstörerische.
Kapitel 30 – Gewalt zerstört sich selbst
Wer im Einklang mit dem Dao
die Welt regiert,
setzt keine Gewalt ein.
Denn alles, was durch Gewalt wächst,
schafft sich selbst zugrunde.
Wo Heere lagern,
wächst nur Dornen und Disteln.
Wer in Kriegen siegt,
wird dem Untergang geweiht.
Darum führt der Weise,
ohne sich aufzudrängen.
Er handelt,
ohne sich hervorzutun.
Er erreicht,
ohne sich zu brüsten.
Er siegt,
ohne sich zu verherrlichen.
Er zwingt nicht,
denn alles, was erzwungen wird,
wird schwach und vergeht.
Dies ist nicht der Weg des Dao.
Was nicht dem Dao entspricht,
endet früh.
Kapitel 31 – Waffen sind Werkzeuge des Unheils
Waffen sind Werkzeuge des Unheils,
sie widersprechen dem Dao.
Darum gebraucht der Weise sie nur,
wenn er muss.
Er tut es ohne Freude,
denn Freude am Töten
führt zum Verlust der inneren Kraft.
Bei Siegen hält er Trauer ein.
Ein Feldherr wird wie bei einer Totenfeier handeln.
Denn viele Tote zeugen nicht von Ruhm,
sondern von Leid.
Kapitel 32 – Das Dao ist ohne Namen
Das Dao ist ewig und ohne Namen.
Wäre es klein, so wagte niemand,
es zu beherrschen.
Wenn Fürsten und Könige
sich dem Dao anvertrauen,
werden alle Dinge von selbst in Ordnung kommen.
Himmel und Erde vereinen sich,
und süßer Tau fällt herab.
Das Volk findet seinen Frieden,
ohne dass Befehle nötig sind.
Doch sobald Namen entstehen,
soll man wissen,
wann es genug ist.
Denn wer weiß, wann er aufhören muss,
bleibt ohne Gefahr.
Das Dao in der Welt
ist wie ein Fluss,
der in das Meer mündet.
Kapitel 33 – Wahre Erkenntnis
Wer andere kennt, ist klug.
Wer sich selbst kennt, ist weise.
Wer andere besiegt, ist stark.
Wer sich selbst besiegt, ist mächtig.
Wer weiß, wann er genug hat, ist reich.
Wer beharrlich ist, hat Willenskraft.
Wer seinen Platz nicht verliert, bleibt bestehen.
Wer mit dem Tod nicht vergeht,
lebt wahrhaft lange.
Kapitel 34 – Das Dao durchdringt alles
Das Dao fließt überall,
es kann nach rechts und links gelenkt werden.
Alles in der Welt entsteht aus ihm,
doch es beansprucht nichts für sich.
Es wirkt,
doch es macht sich nicht wichtig.
Es nährt alles,
doch es herrscht nicht darüber.
Es ist klein,
weil es sich nicht aufdrängt.
Doch es ist groß,
weil alles zu ihm zurückkehrt.
Weil es sich nicht als groß bezeichnet,
bleibt es wahrhaft groß.
Kapitel 35 – Das große Bild
Wer das große Bild hält,
zieht die Welt zu sich.
Die Menschen kommen zu ihm,
und finden Frieden.
Lieder und Speisen locken den Wanderer an,
doch das Dao ist ohne Form und Geschmack.
Man schaut es an,
aber sieht es nicht.
Man lauscht ihm,
aber hört es nicht.
Man greift danach,
aber kann es nicht fassen.
Doch wenn man es lebt,
ist es unerschöpflich.
Kapitel 36 – Das Prinzip der Wandlung
Wenn man etwas zusammenziehen will,
muss man es zuvor ausdehnen.
Wenn man etwas schwächen will,
muss man es zuvor stärken.
Wenn man etwas beseitigen will,
muss man es zuvor wachsen lassen.
Wenn man etwas nehmen will,
muss man es zuvor geben.
Das ist das subtile Licht.
Das Sanfte und Schwache
überwindet das Harte und Starke.
Ein Fisch darf nicht aus der Tiefe geholt werden.
Die scharfen Werkzeuge des Staates
sollen nicht gezeigt werden.
Kapitel 37 – Das Dao handelt nicht
Das Dao handelt nicht,
doch nichts bleibt unerledigt.
Würden Fürsten und Könige
sich dem Dao anvertrauen,
würde sich alles von selbst wandeln.
Wenn Begierden entstehen,
würde ich sie mit dem Namen des Einfachen zügeln.
Das Einfache zu bewahren,
bedeutet, frei von Verwirrung zu sein.
Wer frei von Verwirrung ist,
ist still und ohne Verlangen.
So wird die Welt von selbst in Ordnung kommen.