Eine Hypothese zu Akzeptanz, Restfunktion und vegetativer Regulation
Einleitung
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) führt zu einer fortschreitenden Degeneration motorischer Neuronen, die Beweglichkeit und Kommunikation zunehmend einschränkt. Doch selbst in fortgeschrittenen Stadien scheinen bestimmte motorisch-sensorische Muster – etwa Speichelfluss und Zungenstellung – eine überraschende Anpassungsfähigkeit zu zeigen.
Basierend auf persönlichen Beobachtungen, insbesondere bei meiner Frau, die an ALS erkrankt ist, formuliere ich die Hypothese, dass Speichelfluss nicht nur ein Symptom ist, sondern durch bewusste Akzeptanz und gezielte Intervention reguliert werden kann. Diese Regulation könnte zentrale Plastizität widerspiegeln und das Wohlbefinden fördern. Der folgende Beitrag verbindet klinische, neurophysiologische und kontemplative Perspektiven, um diese Idee zu beleuchten.
1. Persönliche Beobachtung: Speichelfluss annehmen statt bekämpfen
Ein zentraler Ausgangspunkt dieser Hypothese ist die Erfahrung mit meiner Frau. Wir stellten fest, dass die bewusste Platzierung der Zungenspitze am vorderen Gaumen, gepaart mit einer Haltung des Annehmens des Speichelflusses, diesen spürbar reduzierte und gleichzeitig ihr Wohlbefinden steigerte.
Anstatt den Speichelfluss als störend zu bekämpfen, führte eine freundliche, nicht abwehrende Aufmerksamkeit zu einer spürbaren Entlastung. Diese Beobachtung legt nahe, dass Speichelfluss nicht nur ein reflexives Phänomen ist, sondern aktiv beeinflusst werden kann – mit positiven Folgen für Lebensqualität und Selbstwahrnehmung.
2. Physiologische Grundlagen: Speichelfluss und Zungenmotorik
Die Steuerung von Speichelfluss und Zungenstellung erfolgt über ein Zusammenspiel neuronaler Bahnen:
- Motorisch: N. hypoglossus (XII), N. facialis (VII), N. glossopharyngeus (IX)
- Sensorisch: Afferenzen des N. trigeminus (V) und N. glossopharyngeus
- Vegetativ: Parasympathische Fasern, zentral vagal verschaltet
Das Rückenmark spielt eine indirekte Rolle bei der Koordination dieser Impulse, insbesondere über bulbospinale Verbindungen. Diese Strukturen könnten bei ALS trotz Degeneration eine Restfunktion behalten, die durch gezielte Stimulation aktiviert werden kann.
3. Hypothese: Plastizität durch Akzeptanz und Aufmerksamkeit
Durch bewusste Akzeptanz des Speichelflusses und gezielte Zungenstellung können bei ALS erhaltene motorisch-sensorische Muster reaktiviert werden, was die Regulation verbessert und das Wohlbefinden steigert.
Diese Annahme basiert auf:
- Aktivierung trigeminaler Afferenzen durch Zungenspitze am Gaumen
- Top-down-Modulation des Speichelflusses durch fokussierte Aufmerksamkeit
- Förderung eines ventral-vagalen Zustands (Polyvagaltheorie) durch freundliche Zuwendung
4. Erweiterte Hypothese: Speichelfluss als Ausdruck vegetativer Kommunikation
In kontemplativen Traditionen – etwa im Daoismus, Buddhismus oder klösterlicher Mystik – wird intensiver Speichelfluss in tiefen Phasen des Stillen Sitzens als Zeichen innerer Umstellung beschrieben. Dieses Phänomen tritt meist einmalig im individuellen Entwicklungsprozess auf, hält über Tage an und reguliert sich danach dauerhaft.
Speichelfluss unter bewusster, annehmender Aufmerksamkeit könnte eine Kommunikationsbrücke zwischen Rückenmark, Hirnstamm und höheren Zentren darstellen.
Die Akzeptanz des Speichelflusses, insbesondere durch wiederholtes bewusstes Schlucken, könnte Teil eines biologisch eingebetteten Rückkopplungsprozesses sein – eine Art somatisch-zentrale Synchronisation.
5. Biochemische Perspektive: Speichel als Träger von Signalen
Speichel enthält zahlreiche Substanzen, die als biologische Marker und Botenstoffe fungieren:
- Stresshormone: z. B. Kortisol, alpha-Amylase
- Immunmarker: z. B. sekretorisches IgA, Interleukine
- Neuroaktive Peptide: z. B. Substanz P, Neuropeptid Y
- Exosomen mit RNA-Fragmenten neuronalen Ursprungs
Der Speichelfluss könnte nicht nur Ausdruck eines inneren Zustands, sondern auch selbst ein aktives Element der zentralen Regulation sein.
Durch bewusste Integration und Schluckvorgänge könnten diese Signale über den oropharyngealen Raum in Rückbindung an zentrale vegetative Steuerzentren wirken.
6. Relevanz für ALS: Kommunikation und Lebensqualität
Die bewusste Steuerung von Speichelfluss und Zungenstellung bietet bei ALS neue Ansätze:
- Regulation statt Kampf: Akzeptanz als Selbstwirksamkeit – anstelle pharmakologischer oder mechanischer Kontrolle
- Restfunktion nutzen: Orofaziale Muster als alternative Kommunikationsformen in späten Stadien
- Wohlbefinden fördern: Beobachtungen zeigen eine spürbare Erleichterung, sowohl körperlich als auch emotional
Diese Ansätze lassen sich einfach in die Pflege integrieren – etwa durch achtsame Begleitung und kleine Hinweise, ohne Druck oder Korrektur.
7. Schlussbemerkung
Diese Hypothese ist ein Plädoyer, Speichelfluss bei ALS nicht als reines „Symptom“ zu betrachten, sondern als potenziellen Marker für zentrale Plastizität und vegetative Kommunikation.
Die Verbindung aus neurologischem Wissen, traditionellem Erfahrungswissen und konkreter Beobachtung zeigt:
Annahme ist keine Resignation – sondern ein Akt tiefgreifender Intelligenz.
Abstract (English)
Saliva flow and tongue posture are commonly regarded as peripheral symptoms in advanced stages of amyotrophic lateral sclerosis (ALS). However, recent observations suggest that their conscious modulation may reflect underlying neuroplastic processes involving the brainstem and spinal cord. In this article, we hypothesize that the friendly and repeated acceptance of spontaneous saliva flow – particularly within the context of deep meditative stillness – can trigger or stabilize a self-regulatory feedback loop. This loop may include sensorimotor input via the trigeminal and glossopharyngeal systems, vagal-parasympathetic signaling, and spinal coordination. Additionally, we explore the possibility that salivary biochemistry itself plays a role in central regulation. We propose a cross-disciplinary framework integrating classical meditative knowledge with current neurophysiological insights, especially in relation to residual function and communication potential in neurodegenerative conditions.
Keywords:
ALS, neuroplasticity, saliva flow, tongue posture, brainstem, vagus nerve, spinal coordination, meditation, autonomic nervous system, non-verbal regulation, sensory feedback, biochemistry, neurodegeneration, silent sitting